Es ist Freitag. Schon am Nachmittag bin ich in die Wohnung von Schorschi gefahren. Mitten in der maroden Altstadt. Vorn durch die alte Holztür mit dem schwarzen Loch in der Mitte. Glas ist hier schon lange nicht mehr drin. Durch den Flur in den Hinterhof. Dort die steile Holztreppe rauf. Die Stufen knarren, jede anders. Oben nur ein Vorhang, die Tür steht hier immer offen. Für jeden, der zu Besuch kommt.
Die Bude ist verqualmt. Filterlose Karo oder Selbstgedrehte oder beide. Schorschi freut sich, wie immer, wenn jemand den Weg zu ihm gefunden hat. Er macht Fettbemmen mit selbst geschmorten Schmalz, bestreut mit Salz und Zitronenmelisse. Dazu schwarzen Tee, natürlich mit einem Schluck Schnaps. Goldbrand, manchmal auch Rum. Oder ein Glas Rotwein, aus der Tasse. Mit braunen Rändern vom schwarzen Tee.
Dann nimmt Schorschi die Gitarre in die Hand. Er schlägt ein paar Akkorde an, seine Finger gleiten durch die Saiten. Wie macht er das bloß immer? Schon wieder hat er eine neue Melodie, schon wieder hat er einen Text vertont. „Lied für Katrin“ nennt er es, beim Vorsingen krieg ich Gänsehaut. Dann klimpert er noch ein paar andere Sachen an. Und dann ist der Wein alle. Wir gehen zusammen die steile Treppe hinunter, durch den Flur auf die Straße. Schräg gegenüber ist Schorschis Stammkneipe. Nicht nur seine.
Im Sargdeckel trifft sich halb Halle. Zum schwatzen (aber bitte leise, sagt der Wirt), natürlich zum Bier trinken (Helles 40, Pils 48, Sternburg Export 56 Pfennige – 0,25 Liter) und auch zum Knobeln. Oder Skat spielen. Der Wirt ist grantig, aber hat das größte Herz. Schnaps kostet hier ne Mark, Bockwurst mit Rührei und Kartoffelsalat 3,20. Zehn Mark reichen hier. Zum satt werden, für zehn Bier, zwei Schnäpse und Trinkgeld. Punkt elf ist Schluss, keine Diskussion.
Also weiter zum Turm. Studentenklub. Schwierig hinein zu kommen. Schorschi kennt den Chef, kein Problem. Außen dicke Mauern, drinnen halbe Liter Bockbier (1,12). Unten nur ein paar Leute am Tresen, oben ist es rammelvoll. Eine Jazzband spielt, Schlagzeug, Bass, Saxophon. Das Publikum langhaarig, Jeans, Römerlatschen. Wir gehen wieder hinunter, das Bockbier schmeckt uns besser als der Jazz.
Dann ist es auch schon früher Morgen. Schorschi wankt nach Hause, ich auch. Durch die halbe Stadt. Durch Parks, über Brücken, über menschenleere Straßen. Vorbei an den Ruinen am Stadtrand. Dann das Centrum-Warenhaus, der Fluss, die Pferderennbahn. Schluss für heute, bis nächsten Freitag.
Das alles ist lange her. Das Land wurde abgeschafft, Schorschi lebt leider nicht mehr. Aber die Erinnerungen sind wach. Die kann man nicht einfach abschaffen. Die sind frei, wie die Gedanken. Und die Kneipe gibt´s auch noch. Oder besser gesagt – wieder.
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So schön Halle heute geworden ist, ich mochte damals schon den Charme dieser Stadt. Inklusive der runtergekommenen Altbauten rund um den Sargdeckel. Ein schönes Stück Geschichte, ein wunderschöner Text.
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da muss ich dem kiezreporter mal recht geben. schönschönschön!!!
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O.O. – danke dafür. Ein guter Ansporn für eine Sache, die mir schon länger durch den Kopf geht.
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Diese Beschreibung noch zweihundert Seiten länger und ich lese einen Roman, den ich wirklich lesen möchte. LG O.O.
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„aber bitte leise, sagt der wirt“ ja genauso hatters gesagt, der sanfte rolli
am liebste sah ich ihn, wenn er hinter dem tresen stehend, eine größere gruppe sechzehnjähiger abenteurer liebevoll beäugte, von denen drei etwas länger brauchten, kehrt zu machen, weil sie ob der beschlagenen brillen die situation verspätet erfassten
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Eine der wohl ersten Bürger-Initiativen der DDR verhinderte damals den Abriss des Hauses, in dem sich der Sargdeckel befand. Das wollte was heißen damals. Der Westen hat´s dann hinbekommen, dass dort jetzt ein Versicherungs-Glaspalast steht. Aber wenigstens der Deckel durfte unten wieder einziehen.
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Und die größte Ehre war es damals bei Rolf und Bringfriede Valerius, dem Wirts-Paar vom Sargdeckel, wenn man am Stammtisch sitzen durfte. Wenn ich mich recht entsinne durfte das Schorschi und auch der Autor hier. Und ich natürlich auch.
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