Die einen wollen aus dem Großflughafen BBI ein Messegelände machen. Andere Bürgerinitiativen würden das Gelände gern mit einer großen Menschenmenge besetzen und so den Weiterbau verhindern. Viele Initiative, viele Meinungen, noch mehr Ziele. Eins haben alle gemeinsam: Keine Flugrouten über ihren Dächern. Setzen sich alle Bürgerinitiativen durch, werden auf BBI nur Senkrechtstarter zugelassen.
Protest ist wieder in. Dagegen sein ist Mode, seit Stuttgart gar gesellschaftsfähig. Man trifft sich Freitagabend oder Montags zur Demo mit Trillerpfeifen und Holzrasseln, weil eventuell einmal irgendwann Flugzeuge in 3000 Meter Höhe über die Stadt fliegen werden. Dann nämlich, wenn der Flughafen in der Stadt schließt. Und der auf dem Land öffnet. Es wird geklatscht und Juhu gerufen, wenn ein altgedienter Überzeugungs-Wessi, selbst ernannter Robin Hood der Flughafengegner sowie Ex-Gewerkschaftssekretär, Ex-Bundestagsabgeordneter, Ex-Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse im Bezirk Ruhr, „Wir sind das Volk“ in den Saal schleudert.
Das ist toll. Denn der ist auch dagegen. Und deshalb einer von uns. Andere dagegen sind dafür. Wie jene, die einst dagegen waren. Aber nun, ins Alter und in den Luxus von zweimal jährlich Urlaub in Übersee gekommen, nicht mehr dagegen sein können. Nicht offiziell jedenfalls. Und doch sind einige von ihnen zumindest für die Zeit des Protestes dann doch dagegen. Der Porsche wird zwei Kilometer vor der Demo geparkt, das Sakko mit dem Parka getauscht. Mütze auf, Palästinensertuch um den Hals und schon kann´s losgehen. Das Dagegensein. Ist ja gerade in.
Dabei sind wir Deutschen grundsätzlich und eigentlich alle dafür. Weil wir alles hinnehmen. Ein Hinnehmer-Volk. Wir sind das Volk. Das Pro-Volk. Und wenn es aus Protest ist. Wirklicher Protest existiert jedoch nicht. Nicht gegen Unzumutbarkeiten des Alltags. Nicht gegen Verblödungs-TV. Nicht gegen die 27. Wiederholung von Moonraker. Okay. Ein bisschen gegen Atomkraft. Ein bisschen Frieden. Aber niemand ist gegen den Alltagswahnsinn. Niemand protestiert. Ein Hinnehmer-Morgen in Berlin.
7.32 Uhr, Berliner Straße, Pankow. Es fährt keine Straßenbahn. Keine U-Bahn. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben ihre für Oktober geplante Fertigstellung der Bauarbeiten an beiden Strecken auf Dezember verschoben. Der Schienenersatzverkehrbus kommt nicht, wie auf dem Plan steht, alle „paar Minuten“. Sonder erst nach 18 Minuten Wartezeit. Dann steht der Bus im Stau. Braucht 20 Minuten für einen Kilometer. Wir wären schneller gelaufe. Aber wir nehmen es hin. Kein Protest.
8.02 Uhr, S-Bahnhof Schönhauser Allee. Der Zug der Ringbahnlinie 42 steht schon zehn Minuten mit geöffneten Türen auf dem Bahnhof. Keine Durchsage. Noch einmal zehn Minuten später doch eine Durchsage: „Wegen eines Defektes muss dieser Zug geräumt werden. Bitte steigen Sie alle aus.“ Alle steigen aus. Ohne murren, ohne Protest.
8.27 Uhr, S-Bahnhof Friedrichstraße. Die Rolltreppen sind defekt. Die Menschenmenge schiebt sich langsam über die einzige Treppe nach oben. Es ist viel zu eng, alle schubsen sich gegenseitig an. Ohne Protest.
8.42 Uhr, Virgin-Store, Berlin Hauptbahnhof. Ein Schild an der Musik-Theke weist daraufhin, „dass derzeit aus technischen gründen kein Abspielen von CDs möglich ist“. Kein Protest.
9.05 Uhr, in der S-Bahn Richtung Potsdam. Zwei Typen, die weder der deutschen Sprache mächtig sind, noch ihre Instrumente beherrschen, nerven alle Fahrgäste mit der Aneinanderreihung von unpassenden Tönen auf Akkordeon und Geige. Jeder Musikschulanfänger spielt besser. Dazu schicken sie einen Minderjährigen zum Betteln durch die Bahn. Kein Protest.
9.15 Uhr, Bahnhof Zoo. Im Aufgang zur S-Bahn stinkt es, wie fast immer, unbeschreiblich nach Pisse. Die Pendeltüren lassen sich nicht öffnen, weil Penner und Bettler sie auf der anderen Seite versperren. Die meisten nehmen deshalb einen Umweg in Kauf. Ohne Protest.
9.32 Uhr, Mövenpick Marché, Kudamm. Ein Brötchen, je zwei Scheiben Wurst und Käse, etwas Meerrettich sowie ein kleines Stück Butter zum Mitnehmen kosten 6,50 Euro. Der Herr vor mir bezahlt das. Ohne Protest.
9.47 Uhr, Kranzler Eck, Kudamm. Das Café im Erdgeschoss hat dicht gemacht. Ebenso der Italiener daneben. Der Sushi-Laden hat „vorübergehend wegen eines Wasserschadens“ geschlossen. Die Post ist umgezogen. Niemand protestiert.
Ich bin übrigens dagegen, dafür zu sein. Ich protestiere. Jetzt schon mal. Auf Vorrat. Denn mich hat bei der Planung von BBI, bei der Planung der Flugrouten, niemand gefragt. Ob es mir passt. Dass dann Tegel dicht macht. Und keine Flugzeuge mehr über unseren Wohnhäusern starten. Oder landen. Es wird verdammt ruhig werden. In Pankow, in der Einflugschneise von Tegel. Auch das werden wir, wieder ohne Protest, einfach so hinnehmen.
und kaum einer ist gegen streetview. was ist da los? wo bleibt der protest? wir sind volker!
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das ist doch wieder einmal ein sehr schöner text zum zustand unseres landes. mich macht diese protestkultur á la wenns meinen eigenes haus baum frau betrifft sehr ärgerlich und ich protestiere gegen einen protest der das große ganze nicht mehr im blick hat. alle protestieren da, wos nicht wirklich oder nur ihnen ein bisschen wehtut. wer protestiert gegen hartz-gesetze, sozial- und gesundheitsreform, unfähige politiker usw.? könn wa eh nüscht ändern, wat solln wa uns aufrejn. und wir, lieber berlinpankowblogger, sind ja, wenn wir ehrlich sind, auch in erster linie an den tasten dabei. aber dabei bleiben wir. schön, dass wir – ist das nun wegen alter oder neuer lokalisation – da einen ähnlichen gedanken hatten: http://zauderei.blogspot.com/2010/10/hebammen-oder-der-lobbyismus-und-die.html
ps. wat is los in tanzcafe binz? wenn man im busstau steht, sieht man offene fenster und bauarbeiten… und noch ein insider: in der wolfshagener gibt es jetzt einen privatclub (laden 77) mit alle zwei wochen samstags party bis in die puppen. da kommen menschen in unserem alter mit hannoveraner bus und rummsen bis in die morgenstunde. da bin ich – bei allem respekt für die kulturelle aufrüstung in pankow – dagegen. weiß wer mehr?
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