Kasse mit 465

Ein Schnupfen hat mich lahm gelegt. Und hier, auf der Couch muss ich spontan ans Jahr 1984 denken. An die Jahre meiner Lehrausbildung. Und eben an den 6. Februar 1984. Es mag auch der 13. gewesen sein.  Das war ein schwarzer Tag. Ein schwarzer Tag für alle Lehrlinge im Metalleichtbaukombinat Werk Halle (MLK), die dort ihre Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenmonteur machten. Denn ab diesem 6. Februar 1984 war es vorbei mit dem Krankenschein auf Bestellung. Schluss mit „Kasse machen“, mit Zusatzurlaub, mit schönen Auszeiten, mit Ausschlafen nach durchzechten Nächten, nach langen Partys oder einfach nur so. „Krankenscheine von Sanitätstrat Appel werden in diesem Betrieb ab sofort nicht mehr anerkannt“, stand da auf dem schwarzen Brett im Eingangsbereich zwischen Pförtnerhäuschen und Kantine.

Das Aus für den Arzt für alle Fälle. Appel, das war aber nicht nur ein Arzt. Eigentlich war es gar kein Arzt. Wer wirklich krank ist, sollte nicht zu Appel gehen, sagte man damals. Wer aber einen Krankenschein brauchte, egal ob für einen Tag oder eine ganze Woche, oder gar für bereits vergangene Tage, der war bei Sanitätsrat Appel im Halle-Dölauer Goldammerweg genau richtig. Sein Motto hing denn auch unübersehbar in einem Bilderahmen in seiner Praxis: „Der Schnuppe und der Hust, zur Arbeit keene Lust“. Der Name war Programm. Jeder, der die Praxis betrat, ging garantiert mit einer Arbeistunfähigkeitsbescheinigung hinaus. Häufigste Diagnose: 465 – der Diagnoseschlüssel für „Akute Infektion der oberen Atemwege“.

Andere beliebte Diagnosen der „Patiententen“ Appels waren die 470 (Grippe), 473 (Grippe mit Störungen des Verdauungssystems, also Durchfall), 490 (Bronchitis), 564 (funktionelle Darm-Störungen),  536 (Störungen des Magens) oder auch schon mal die 607 (sonstige Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane). Meine Diagnose hieß jedoch fast immer „Kasse mit 465“. Und jeder, alsbald leider auch jeder Lehrmeister, wusste was dahinter steckt: Akute Arbeitsallergie – keene Lust. Weshalb sich im MLK und allen anderen halleschen Ausbildungsbetrieben, die Arbeistunfähigkeitsbescheinigungen von Appel stapelten und so manches Mal (angeblich) die Planerfüllung des sozialitischen Wettbewerbes akut in Gefahr war. Bis zu jenen Februartagen 1984.

Später, als ich schon als Facharbeiter knuffen ging, stellte sich heraus, warum Appels Scheine nicht mehr anerkannt worden sind. Einige Stammkunden des Sanitätsrates hatten seine Praxishilfe, eine mächtige Schwester guten Gemütes, überreden können, ihnen Blanko-Krankenscheine auszuhändigen. Ordentlich abgespempelt und unterschrieben. Nur eben noch ohne Datum und ohne Diagnoseschlüssel. Einer der Lehrlinge soll nun eines Tages, Anfang 1984, mit solch einem Schein auf Arbeit erschienen sein. Er gab gegenüber seinem Lehrmeister an, sich beim Schweißen die Augen verblitzt zu haben. Was so ziemlich jeden Tag einmal vorkam. Also für jeden Lehrmeister nachvollziehbar. Nur leider hatte jener Lehrling den Diagnoseschlüssel verwechselt, den er ja selbst eingetragen hatte. Statt der 378 (sonstige Krankheiten des Auges), hatte er die 388 eingetragen. 388, der Diagnoseschlüssel für Taubstummheit.

8 Kommentare zu “Kasse mit 465

  1. Pingback: Schuldig! Oder: Als V-Mann bei der FDJ | berlinpankowblogger

  2. Nicht, dass ich es wüsste. Aber heutzutage schreibt doch jeder Arzt den Schein aus, damit er auf seine Kohle kommt. Was ja zu DDR-Zeiten den Sozialismus geschwächt hätte und somit nicht immer einfach war…

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  3. Oder Dr. Hilpisch im Falkenweg.
    Der hatte so ein schönes Bild im Warteraum hängen.
    Darauf stand exakt (weeß ich noch janz jenau):
    Wenn Sie mir eine Freude bereiten wollen, dann bringen Sie mir die Briefmarken Ihrer Post aus dem In- und Ausland.
    Wenn du das gemacht hattest, hattest du nie wieder Probleme mit nem Krankenschein. Vor während oder nach der Krankheit.

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  4. amtsarzt hieß früher „ärzteberatungskommission“. ach, war das schön, die kotzen zu sehen…

    ich klau den text die tage mal

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  5. großartige geschichte. so einen arzt gab es auch am kollwitzplatz, auch nach der wende noch. binnen 45 minuten hatte der 15 patienten abgefertigt. kaum hatte man das zimmer betreten, hieß es „sie sehen aber gar nicht gut aus, bleimse mal zwei wochen zuhause“, und fertig war die laube. leider hatte die zivildienststelle den braten nach 10 wochen gerochen und mich verpflichtend zum amtsarzt geschickt. da war dann essig. was bleibt, ist die erinnerung.

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