Wenn Rechts-Experten sprechen

Sie tauchen immer dann auf, wenn sie der Meinung sind, nun hätten sie etwas zu sagen. Wenn sie meinen, sie wüssten es besser. Weil sie entweder nichts zu tun haben den ganzen Tag, oder weil sie ihren Frust auf ihr eigenes Leben in Sinn entleerten Tiraden loswerden müssen. Plattitüden, Nachgeplapper, umnebelte Visionen, Schwachsinn.

Meist ohne Beweise, ohne handfesten Hintergrund, lassen sie ihren Gedankenmüll in Tausenden Kommentaren im Netz zurück. Sie, die Experten dieser Welt. Meist unfähig, in wahren Leben auch nur ein einziges Mal von sich aus einen fremden Menschen anzusprechen, wagen sie es sich, ihre Experten-Meinungen in Blogs und Online-Portalen niederzuschreiben. Sie sitzen daheim, trauen sich nicht auf die Straße, glauben nur an ihre eigene kleine Wahrheit. Kritik ist verboten, Zeitungsberichte erlogen.

Wie jetzt gerade wieder. Nach dem (bisher ohne Gegenbeweis) Freitod der Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig treiben es die Meinungs-Experten wieder besonders arg. Mord und Attentat sind da im Anmarsch und mit ihnen die (vor allem) versammelte Schar der rechten Volksgenossen. Es riecht nach politischen Anschlägen, nach Vertuschung, Verschwörung.

Besonders im jungen freiheitlichen Blätterwald rauscht es mal wieder angebrannt und die ersten Schuldigen sind dort bereits gefunden. Es könne so nicht gewesen sein. Da hat doch bestimmt der Ali seine Hand im Spiel. Genau. Und nur so. Andere springen aufs Trittbrett und bringen gemeinsam das gute alte deutsche Schießgewehr in Stellung. Sie führen zum Beweis Aussagen ehemaliger Kripobeamte an, zitieren Bürgermeister mit hanebüchenen Statements. Und die Untersuchungsergebnisse der Staatsanwaltschaft sind natürlich alle gefälscht. Doch echte Beweise hat keiner. Nur eine Meinung. Oder auch viele. Hauptsache man kann mal wieder Mord und Verschwörung in die Welt hinausexperten.

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Big in Neukölln

Hast Du Zigrette?, fragt das junge Mädchen mit den hochhackigen Schuhen im Minirock. Ihre Taille hat kaum mehr Umfang als die Zigarette, deren Rauch sie tief inhaliert. Sie mag höchstens zwanzig sein, ihre Fingernägel sind lang und schwarz angemalt. Sie hat zu viel Schminke in ihrem Gesicht und die Netzstrumpfhosen, hinter denen ihre dünnen Beinchen viel zu blass hervorschimmern, haben auch schon bessere Zeiten gesehen. 50 Euro alles komplett, flüstert sie dem leicht angetrunkenem Touristen zu. Doch der hat was anderes vor. Er nickt zwar freundlich zurück, entscheidet sich aber doch für die nächste Tür. Hier gibt es fette Burger und Fritten, das hat er wohl gesucht.

An den Tischen im Fastfoodrestaurant sitzen die, die man hier als Menschen mit Migrationshintergund bezeichnet. Einige von ihnen sind scheinbar froh, endlich etwas zu essen zu haben. Andere sind fett und feist und Goldketten behangen und haben ihren Autoschlüssel vom dicken BMW sichtbar auf dem Tisch liegen. Die eine Hand hält ständig ein vergoldetes Handy ans Ohr, die andere taucht längst kalt gewordene Fritten in dicke Mayonnaise.

Oben in der ersten Etage, direkt über dem Restaurant, sind die Fenster von innen rot und blau angeleuchtet. In einem blinkt ein Herz, ein anderes verrät „Offen“.  Das junge Mädchen ist inzwischen verschwunden. Wer sie jetzt noch treffen will, muss bei „Diskret“ klingeln.  Ein Mann Mitte 50 sieht sich erst ein paar Mal um, bevor er sich traut. Dann drückt er den Klingelknopf. Doch bevor noch ein Summer ertönt, schleicht er sich mit geducktem Kopf davon.

Gegenüber an der Ampel, direkt vor dem großen Kaufhaus, sitzt John. John sitzt oft hier, erzählt er mir. John spielt Saxophon. In seinem Koffer liegen ein paar Eurostücke und jede Menge Cents. Candy Dulfers Lilly was here klingt über den ganzen Platz. Übertönt den immer währenden Eigenklang des Platzes. Eine Mischung aus Schritten, Rufen, Imbissverkaufsgesprächen, Taxihupen, Automotoren. Und den Gesprächen der Penner, Bettler und Obdachlosen, die sich ein paar Bier und eine ergatterte Schachtel Zigaretten teilen.

Inzwischen erleuchten Laternen den Platz. Die Leuchtreklamen ringsum locken Kundschaft in längst geschlossene Geschäfte. Manuel, Mode für Männer und Dessous in alle Größen gibt es, aber eben nur zum ansehen. Dafür leuchten sie um so schöner und um die Wette. Die kleine Asiatin im China-Imbiss mit den Nudeln-Mit-Hunh-Und-Gemüse in der Tüte für zwei Euro fuffzich schüttet nochmal eine Großpackung Reisnudeln in die große Pfanne. Ein dicker Tourist steigt daneben aus einem Taxi und fragt den Fahrer durchs Fenster, wo denn hier nun der Puff sei.  Haste keene Augen im Kopp oder wat, sagt der und braust davon.

Wie aus dem Nichts taucht das dünne Mädchen mit den kaputten Netzstrumpfhosen auf und führt Mr. Big so gar nicht diskret zur Tür mit dem gleich lautendem Klingelschild. B-IG, das steht hier auch auf jedem zweiten Nummernschild der dicken Limousinen, die hier überall im Halteverbot parken. Abends, am Hermannplatz in Neukölln.

StraßengesCHichtE I

Die Straße war lang, schien endlos zu sein. Laternen links und rechts tauchten die Gehwege spärlich in weißes, kaltes Licht. Nur ab und an gab es eine mit dem warmen orange-farbenen Licht. Etwa jede neunte, wie ich beim Zählen feststellen konnte. Warum ausgerechnet jede neunte? Keiner wusste eine Antwort darauf. Aber es hatte auch niemand danach gefragt.

Auch die Hausnummern präsentierten sich je nach Verfassung des Gebäudes grell, bunt, hell oder dunkel. In den Hauseingängen der sanierten Gründerzeit- und Jugendstilbauten schienen sie fast heller als die Straßenlaternen. Fast wie mit Stolz schienen sie sagen zu wollen: Hier ist die Hausnummer 65. Und hier die 58. Andere wiederum hatten es schwer, ihre Nummer überhaupt erkenntlich zu zeigen. Ganz schwach nur leuchteten 20-Watt-Birnen hinter lange nicht mehr geputzten Scheiben. Einige Häuser gar wollten ihre wahre Nummer wohl nur bei Tageslicht zeigen.

An der großen Kreuzung war ein Lokal. „Grill-Restaurant“ stand in großen Lettern daran. Vor der Tür zwei verlassene Tische. Mit verlassenen Stühlen, halbleeren Tellern und ausgetrunkenen Gläsern. Ein voller Aschenbecher und eine zerfledderte Tageszeitung leisteten ihnen stumm Gesellschaft. In einem Fenster des Lokals blinkte ein rotes „Open“-Schild vor sich hin. Dahinter weiß-gelbe Gardinen, in denen sich wohl unerwünschte Blicke verfangen sollten.

Die Tür war geöffnet. Dort stand ein Mann in Jeans und Hertha-die-Aufholjäger-T-Shirt. Rauchend.  Und telefonierend. Zumindest hatte er ein Handy in der Hand, drückte es an sein linkes Ohr und schien zu lauschen. Was die oder der am anderen Ende erzählte. Schließlich schnippte er die Kippe auf die Straße, drehte sich um und ging ins Lokal. Eine Katze, die schon eine ganze Weile unter einem der Außentische gelauert hatte, nutzte die Situation und erwischte gerade noch den Spalt zwischen Rahmen und der sich schließenden Tür, um ins Innere zu gelangen.

An der Bushaltestelle standen drei junge Typen. Tuschelnd. Kapuzenjacken, weite Jogginghosen, Turnschuhe. Blicke zu mir. Alle Raubüberfälle und Auf-Busfahrer-Attacken dieser Gegend der letzten Monate gingen mir durch den Kopf. Wieder diese Blicke. Dann sprach mich einer an: Feuer? Ja, klar, kein Problem. Als das Zippo aufflammte, sah ich in ein Jungengesicht. Fast noch ein Kind. Nicht viel länger als 12, 13 Jahre auf dieser Welt. Die Hand mit der Filterzigarette zitterte leicht. Danke. Und einen schönen Abend noch, sagte das Milchgesicht.

Später stiegen die Jungs zusammen mit mir in den Bus. Jeder zahlte sein Fahrgeld. Passend. Ich hielt meine Monatskarte hoch, setzte mich ganz nach hinten. Als der Bus losfuhr, schaute ich zurück. In die lange, endlos scheinende Straße. Einige der Straßenlaternen waren inzwischen ganz aus, einige andere flackerten. Als wollten sie sich verabschieden und sagen: Bis bald mal wieder. Warum nicht? Na klar! Bis bald mal wieder, Wildenbruchstraße. In Berlin Neukölln.