Das augenblickliche Glück

Es ist dieser eine kurze Augenblick. Jener, wenn man die Düne erreicht hat und die Augen darüber hinweg die See erspähen. Wenn sich der weite Horizont auftut, wenn die salzige Luft in die Nase steigt, der Küstenwind über den Sandwall hinweg ins Gesicht weht. Das ist der Augenblick, den ich an der Ostsee, und auch an anderen Meeren, am liebsten habe. Wenn man nach langer oder auch kürzerer Fahrt endlich angekommen ist. Dort, wo schon immer das Herz am liebsten schlägt. An der See. Wenn sich das Kreischen der Möwen in Bilder wandelt, ihre Flügelschläge zu sehen sind. Wenn der Sand um die Zehenspitzen wie warmes Wasser umspült. Wenn die Wellen den Strand umwerben, sich das Wasser zurückzieht um gleich darauf wieder zurück zu kehren. Wenn der Sand zum Spiegel wird, die Füße nach und nach ein wenig tiefer sinken. Dann tritt alles andere zurück. Dann ist es da, das augenblickliche Glück.

Foto: Der Strand von Graal Müritz, 5. Juli 2011

Werbung

Wee Zet Bee Wee

Sie sind 75 Millimeter lang, 25 Millimeter breit und etwa 12,5 Millimeter stark. Sie haben abgeschrägte Kanten und sehen im Profil wie ein Parallelogramm aus (was ich noch alles weiß!). Es sind Holzklötze, einfach nur Holzklötze. Sie gehören zu einem Spiel namens „Jenga Xtreme“ und haben drei Erwachsene Menschen (eine Frau und zwei Männer) einen halben Urlaub lang abendlich beschäftigt. Kein Videogame, keine TV-Serie oder Sonstiges konnte uns davon abhalten, während der eher kühlen Mai-Abende an der Ostsee Holzklötzchen übereinander zu stapeln.

Das Ziel des Spiels: Einen Turm bauen, indem man immer drei Klötzchen (3x Breite = Länge – was ich noch alles kann!) nebeneinader zu legen und darauf weitere drei, natürlich versetzt. So entsteht ein Turm. Ein schiefer Turm. Denn durch das Profil und das gleichzeitige passgenaue Aufsetzen wächst der Turm entweder in die eine oder in die andere Richtung. Oder in beide, oder in alle vier Richtungen. Wie man auch immer baut, es wird ein schiefer Turm.

Nun heißt es, einen Klotz nach dem anderen aus dem Turm zu entfernen und oben wieder aufzulegen. Mit einer Hand. Nicht so einfach. Jenga erfahrene Spieler werden mich verstehen. Erst recht, wenn sie die Xtreme-Variante kennen. Denn natürlich gibt´s das Spiel auch mit geraden Klötzchen (wahrscheinlich für Anfänger, hihi). Jedenfalls haben wir großen Jungs (Ü 40) uns im Urlaub mit Holzklötzchen und deren Verhalten in Xtremen Situationen beschäftigt. Was im Normalfall vielleicht nach einem Abend erledigt gewesen wäre. Aber weil der Aufbau eben auch schiefe Türme ergibt, gab es mehrere, schier unglaubliche „Holzklötzchen-Entfernungen“ und deren Folgen.

So standen unsere Türme teilweise in der unteren Reihe nur noch auf einem, außen (!) befindlichen Klotz. „Dit jeht nich. Ick hol Euch ma n Statika, der Euch dit erklärt“, ließ zwischendrin eine anwesende, sich angeblich mit Bau-Ingenieurtechnik auskennende junge Frau asu Berlin hören. Tja, es ging doch. Wee Zet Bee Wee, sagte früher immer unser Physiklehrer (oder war´s der in Mathe?).  Egal. Wir bauten auch am nächsten Abend wieder unseren schiefen Turm. Aus Holzklötzchen.  Im Urlaub an der Ostsee.

Sehnsucht bis zum Horizont

Fisch. Es gab wieder Fisch. Wels, Boddenzander, Backfisch, Boddenzander. Mit Lauch, mit Spargel, Kohlrabi. Und Kartoffeln. Vertilgt zusammen mit Freunden. Und mit der einen oder anderen Flasche Wein. Zingst. Wieder mal. Wieder im Ferienhaus im Likedeeler Weg. Gleich neben dem Postplatz, ein paar Schritte nur zum Ostseestrand, ein paar mehr zum Hafen am Bodden. Die Luft salzig von der See, trocken aber sonst, zum Glück.

Mit dem Rad nach Pruchten, nach Prerow. Mit dem Rad zur Sundischen Wiese. Rostock und Warnemünde auch. Dann aber mit dem Auto. Besuch bei Freunden, Spaziergang am Strand vor dem Neptun. Blick in die Broilerbar. Kurzer Halt am Teepott. Fahrt durch den Maut-Tunnel (2,90 Euro). Rostock. Eine Fußgängerzone, ein Hafen. Einfamilienreihenhäuser am Stadtrand.  Doppelhaushälften. Welch eine Wortschöpfung. Ein Haus. Dieses doppelt und dann wieder die Hälfte.

Strand. Schuhe aus. Barfuß im Sand, im klaren, kalten Ostseewasser. Muschelschalen überall. Möwengeschrei. Sehnsucht bis zum Horizont. Ein Törn mit dem Zeesenboot. Einmal den Bodden rauf und wieder runter. Vorbei an Kleiner und Großer Kirr. Bis zur Meiningen-Brücke. Zweimal täglich geöffnet für Boote. Dann dreht sie sich zur Seite. Eine neue ist schon lange in Planung. Wurde bisher nicht gebaut. Schön. Denn so soll es bleiben dort. So und nicht anders. Dann kommen wir auch wieder. Gern und oft.

Der Kuhdamm am Boddenstrand

Zuerst glaubte ich an einen Witz Berliner Ostsee-Touristen. Aber nein, es gibt ihn wirklich: den Kuhdamm in Klausdorf. In jenem kleinen Ort am Kubitzer Bodden ritt jedoch im Gegensatz zu Berlin nicht der Kurfürst sondern wohl die Kuh in Richtung Strandbad.  Oder man ritt mit der Kuh. Oder auf ihr?

Radulf-Kevins Kinderkotze

Es gibt viele Gründe, mit dem Zug zu fahren. Wenn man gerade kein Auto hat und trotzdem mit Freunden zu einem Konzert in Leipzig gehen will. Dann setzt man sich zum Beispiel in Berlin in den ICE und ist eine Stunde später in Leipzig. Es gibt aber auch genügend Gründe, nicht mit dem Zug zu fahren. Da ist zum einen der Fahrpreis. Für den hätte man die Strecke mit dem Auto dreimal zurücklegen können. Oder die anderen Fahrgäste. Wie am Dienstagfrüh auf der Strecke von Halle nach Berlin.

Es war ein IC auf der Fahrt von Eisenach bis Stralsund. Ich stieg in Halle zu und fand auch gleich einen Platz. Außer mir waren in dem Großraumwaggon noch zwei Japanerinnen, ein Rucksacktourist aus Holland und zehn Mütter mit jeweils zwei bis drei Kindern. Alle, wie sich bald herausstellen sollte, auf dem Weg zur Mutter-Kind-Kur an die Ostsee. Die Damen, teils aus Thüringen, teils aus Bayern, hatten bald ein gemeinsames Gesprächstthema gefunden: Die (von anderen) so hoch gelobte vegetarisch-ökobiologische Versorgung in der Mutter-Kind-Klinik. Es würden in der Küche dort nur regionale Spitzenprodukte teils aus Demeter-Anbau verwendet. Da war frau sich einig.

Und während sich die Damen übers Wetter, die Ostsee und makrobiologische Joghurtkulturen unterhielten, machten ihre Kinder, was sie wollten. Kinder mit den schönen Namen Nemo und Klaus (Brüder), Jagoda und Kiano, Jiska und Georg-Jason, Anna-Sophia-Cläre oder auch Radulf-Kevin. Radulf-Kevin war etwa 3 bis 4 Jahre alt und nutzte den Sitz vor mir für diverse Sprungübungen. Was mich im Normalfall eher nicht gestört hätte, hatte ich doch die Kopfhörer auf und außerdem genug zum Lesen dabei. Allerdings hatte Radulf-Kevin zuvor einen biologisch-ökologisch-kultivierten Joghurt gegessen. Und während ich gerade leise Houses of the Holy von Led Zeppelin mitsummte, erbrach sich Radul- Kevin auf meinen (zum Glück leeren) Nachbarsitz. Etwa drei Millimeter an meinem Knie vorbei.

Radulf-Kevin sah sich einen kurzen Moment erschrocken seine stinkende Kinderkotze an, um dann weiter wilde Luftsprünge zu machen. Da mich Kinderkotze auf dem Sitz neben mir nicht gerade erfreut, wies ich die mutmaßliche Mutter von Radulf-Kevin, die etwa drei Sitze weiter vorn mit ihren neuen Freundinnen gerade über laktosefreie Bio-Milch und Heilpraktikerpraktiken diskutierte, auf den Erbrechensfall hin. Woraufhin sie mich durch ihre schicke John-Lennon-Nickelbrille ansah, mit dem Finger auf mich zeigte und durch den Waggon brüllte: „Wegen Leuten wie Ihnen müssen Frauen wie ich jetzt zur Kur.“

Dies geschah zu meinem und vor allem zu ihrem Glück genau, als der Zug in den Berliner Hauptbahnhof einfuhr. Ich musste also aussteigen und war ganz froh darüber. Nicht nur, dass ich nicht mehr neben der Kinderkotze sitzen musste, sondern vor allem, weil ich mir gerade überlegt hatte, handgreiflich zu werden.