Es gibt viele Gründe, mit dem Zug zu fahren. Wenn man gerade kein Auto hat und trotzdem mit Freunden zu einem Konzert in Leipzig gehen will. Dann setzt man sich zum Beispiel in Berlin in den ICE und ist eine Stunde später in Leipzig. Es gibt aber auch genügend Gründe, nicht mit dem Zug zu fahren. Da ist zum einen der Fahrpreis. Für den hätte man die Strecke mit dem Auto dreimal zurücklegen können. Oder die anderen Fahrgäste. Wie am Dienstagfrüh auf der Strecke von Halle nach Berlin.
Es war ein IC auf der Fahrt von Eisenach bis Stralsund. Ich stieg in Halle zu und fand auch gleich einen Platz. Außer mir waren in dem Großraumwaggon noch zwei Japanerinnen, ein Rucksacktourist aus Holland und zehn Mütter mit jeweils zwei bis drei Kindern. Alle, wie sich bald herausstellen sollte, auf dem Weg zur Mutter-Kind-Kur an die Ostsee. Die Damen, teils aus Thüringen, teils aus Bayern, hatten bald ein gemeinsames Gesprächstthema gefunden: Die (von anderen) so hoch gelobte vegetarisch-ökobiologische Versorgung in der Mutter-Kind-Klinik. Es würden in der Küche dort nur regionale Spitzenprodukte teils aus Demeter-Anbau verwendet. Da war frau sich einig.
Und während sich die Damen übers Wetter, die Ostsee und makrobiologische Joghurtkulturen unterhielten, machten ihre Kinder, was sie wollten. Kinder mit den schönen Namen Nemo und Klaus (Brüder), Jagoda und Kiano, Jiska und Georg-Jason, Anna-Sophia-Cläre oder auch Radulf-Kevin. Radulf-Kevin war etwa 3 bis 4 Jahre alt und nutzte den Sitz vor mir für diverse Sprungübungen. Was mich im Normalfall eher nicht gestört hätte, hatte ich doch die Kopfhörer auf und außerdem genug zum Lesen dabei. Allerdings hatte Radulf-Kevin zuvor einen biologisch-ökologisch-kultivierten Joghurt gegessen. Und während ich gerade leise Houses of the Holy von Led Zeppelin mitsummte, erbrach sich Radul- Kevin auf meinen (zum Glück leeren) Nachbarsitz. Etwa drei Millimeter an meinem Knie vorbei.
Radulf-Kevin sah sich einen kurzen Moment erschrocken seine stinkende Kinderkotze an, um dann weiter wilde Luftsprünge zu machen. Da mich Kinderkotze auf dem Sitz neben mir nicht gerade erfreut, wies ich die mutmaßliche Mutter von Radulf-Kevin, die etwa drei Sitze weiter vorn mit ihren neuen Freundinnen gerade über laktosefreie Bio-Milch und Heilpraktikerpraktiken diskutierte, auf den Erbrechensfall hin. Woraufhin sie mich durch ihre schicke John-Lennon-Nickelbrille ansah, mit dem Finger auf mich zeigte und durch den Waggon brüllte: „Wegen Leuten wie Ihnen müssen Frauen wie ich jetzt zur Kur.“
Dies geschah zu meinem und vor allem zu ihrem Glück genau, als der Zug in den Berliner Hauptbahnhof einfuhr. Ich musste also aussteigen und war ganz froh darüber. Nicht nur, dass ich nicht mehr neben der Kinderkotze sitzen musste, sondern vor allem, weil ich mir gerade überlegt hatte, handgreiflich zu werden.
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