Nur eben keine Westautos

Freitagabend in der „Frohen Aussicht“ in Marzahn-Hellersdorf. Wirtin Karin hat viel zu tun, das Lokal ist voll und im Hinterzimmer hat sich der Stammtisch Operativer Einsatz eingefunden. Walter Z. (78), der alte Plattenbau-IM, der einstige Führungsoffizier Herbert K. (75), Günter P. (77), Major a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit, NVA- Oberstleutnant a.D. Eberhard K. (80)  und natürlich Illjuschin (Alter und Nachname unbekannt), der Kopf der alten Kämpfer. Seit einem Jahr ist Franz D. (81) dabei, einst Generalmajor des Ministeriums für Staatssicherheit und dort enger Mitarbeiter Schalck-Golodkowskis in der AG BKK (Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung) im Zuständigkeitsbereich der Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. D. war nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren nach Berlin gezogen und hatte in alten Akten (die er 1989 persönlich gerettet hatte) herausgefunden, wohin man in Berlin als alter Stasi-Kämpfer ziehen muss: fußläufig zur „Frohen Aussicht“.

„Karin, mach mal ne Runde auf meinen Zettel“, sagt Franz D. ganz im alten Befehlston, den er sich partout nicht abgewöhnen kann. Die Wirtin kennt das aber und hat sich längst daran gewöhnt. Dafür schauen ihn alle anderen OE-Stammtischler verwundert an. „Wat n mit Dir los, Franz? Haste im Lotto jewonnen?“, fragt Walter Z. „Oda jibs die Runde uff dein neues Auto. Ick habs jestan jesehn. Schämste dir wenigstens ein bisschen?“, fügt er an. Franz D. nickt. „Zu meiner Verteidigung: Ich habe es nicht gekauft. Es ist ein Erbstück.“ Eberhard K. schüttelt ungläubig den Kopf. „Wat und vor allem von wem willst du denn erben? Mit deinen 80 Lenzen?“ Bevor Franz D. antworten kann, kommt Karin dazwischen und stellt sechs 0,3er Pils und sechs einfache Nordhäuser Doko auf den Tisch. „Alles auf mich“, sagt Franz D. und schiebt seinen Bierdeckel an den Tischrand, damit Karin die Runde anstreichen kann.

„Also, dann auf deine Schande“, sagt nun Illjuschin, der sonst wenig sagt oder eigentlich gar nichts. Es gibt jedoch Themen, da kann er sich nicht zurückhalten. „Naja, Schande ist wohl ein bisschen übertrieben, oder? Und jetzt erst einmal Prost“, sagt Franz D, der dabei an das Auto denkt, das seit drei Tagen ihm gehört. „Eine Cousine im Westen hat mich als Erben eingesetzt, da ich ihr letzter Verwandter war“, begründet Franz D. nun die Neuanschaffung. „Du meinst Klara?“, hakt Günter P. nach. „Die meine ich. Aber woher kennst du denn die Klara?“, fragt Franz D. und wird sich im gleichen Moment wieder bewusst, mit wem er am Tisch sitzt. Günter P. runzelt die Stirn. „Klara, geborene Schultze, verheiratete Peters. Keine Kinder. Lehrerin für Staatsbürgerkunde und Geschichte an der Polytechnischen Oberschule Klement Gottwald in Halle Neustadt. 1992 Republikflucht, also Umzug nach Rendsburg. Richtig, oder?“ fragt Günter P. und klopft dabei Franz D. auf die Schulter. „Wir wollen doch wissen, mit wem wir am Tisch sitzen“, sagt Herbert K. und zwinkert Franz D. zu.

„Und wat willste nun damit machen? Mit dem Westauto?“, fragt jetzt Walter Z. und zeigt mit dem halbleeren Bierglas auf Franz D. „Äh, ich werde, ähm, den Mercedes natürlich schnellstmöglich verkaufen. Und der Erlös, ähm, wird zum Teil, ähm, in die Stammtisch-Kasse fließen“, stottert Franz D. und bestellt zum Zeichen seiner Einsicht noch eine Runde Pils und Doppelkorn für die Lada und Saporoshez fahrenden Genossen vom Stammtisch Operativer Einsatz. Ein Stammtisch, bei dem fast alles (aus dem Osten) erlaubt ist. Nur eben keine Westautos.

Mehr vom Stammtisch gibt es hier.

 

Operation Mimi

Freitagabend am Stadtrand des Berliner Ostens. Draußen ist es, obwohl erst Ende August, grau und nass. Die Plattenbauten im Kiez verschwinden hinter Regenschleiern, im Migrantentreff deutschstämmiger Weißrussen ist es verdächtig ruhig. Sonst dringen hier russische Soldatenlieder ans ostdeutsche Tageslicht. Der bettelnde Flaschensammler hat heute wohl auch etwas anderes vor, sein Platz vor dem Lidl ist leer. Auch von Rudi, dem pfeifenden Trinker mit der großen roten Nase und den prächtigen Zahnlücken, ist heute nichts zu sehen. Nur in der Wohngebietsgaststätte „Frohe Aussicht“ ist alles wie jeden Freitag.

Hinter der Theke Karin. Wie immer mit zuviel Schminke im Gesicht, wie immer sauer auf den Koch („Wat is nu mit dem Schnitzel? Du sollst kochen, nich saufen!“). Am Tresen Paule und Mucki, die sich bei Molle und Korn die neusten Geschichten aus dem Jobcenter erzählen. Vorn an der Tür sitzt der blinde Rentner mit Mischlingshündin Cindy. Den Namen des Mannes kennt hier keiner,  obwohl er auch schon seit 20 Jahren jeden Freitag da sitzt und seine zwei kleinen Pils trinkt. Hinten, am runden Tisch neben dem Tresen, sitzten, auch wie jeden Freitag,  die Herren vom Stammtisch „Operativer Einsatz“.

NVA- Oberstleutnant a.D. Eberhard W. (76),  Herbert K. (68), der alte Führungs-Stratege, Günter P. (73), Major a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit, Plattenbau-IM Walter Z. (72) und natürlich Illjuschin, der Kopf der alten Kämpfer. Und diesmal darf ausnahmsweise auch ein Publizist und alter Mit-Kämpfer Platz nehmen. An diesem Freitag diskutierten die Herren lang und ausgiebig über das neue Buch von Thilo Sarrazin, über das Wetter sowie über den immer noch nicht geklärten Sachverhalt mit dem filmenden Internetunternehmen. Bis P. das Wort ergreift: „Jenossen, dat bringt doch alles nix. Wir müssen endlich die Gunst der Stunde nutzen. Lasst uns endlich handeln.“

„Jenau“, sagt K., während er mit den Fingern bei Karin eine neue Runde bestellt. „Wir ham da mal wat ausjearbeitet, dit muss jetze von Euch abjestimmt werden. Operation Mimi.“ „Oparazion Mimi, wat ssolln dass ssein“, fragt der schon leicht angetrunkene Z. „Mimi, das steht für Migration Informeller Mitarbeiter Immigration. Oder um es mal auch für dich verständlich auszudrücken: In jedem Dönerladen ein IM. Die längst fällige Unterwanderung der Migranten in Berlin“, erklärt Illjuschin. „Vorher müssen wir aber noch etwas anders klären“, sagt der Ex-KGBler mit ernstem Blick in die Runde.

„Sozusagen Operation Mimi Teil eins. Also, Du Günter, nimmst Kontakt zu dieser Firma Google auf. Triff Dich mit einem der verantwortlichen Dienststellenleiter dieses Ausspähdienstes. Am besten nutzt Du dazu die konspirative Wohnung in Charlottenburg. Schlüssel am bekannten Ort. Und dann bietest Du ihm an, was wir letzte Woche besprochen haben: Wir liefern für Street View alle angeforderten Zusatzinformationen wie Mieternamen samt persönlicher Daten, das Sexualverhalten der jeweiligen Bewohner, Musikjeschmack und so weiter. Du weißt schon, alles, was wir da haben. Im Gegenzug stellen die uns alle ihre Fotos ungepixelt zur Verfügung.“ Meinsste, dit klappt?“, fragt Z. „Ja sicher“, erwidert Illjuschin, „wenn die mitkriegen, was wir über die alles wissen, haben die gar keine andere Wahl.“ Und denn“, sagt Günter, „denn folgt Operation Mimi zwei. Aba erstma Prost, Jenossen. Uff Mimi eins!“

Google Street View & die Stasi

„Haste dit jehört? Die wolln Uffnahmen von uns machen und die denne in Amerika den Leuten zeijen.“ Günter P. (73), Major a.D. des Ministeriums für Staatssicherheit, ist entsetzt. Er schaut fragend in die Runde seiner Stammtischbrüder. Wie jeden Freitag, seit 1982 schon, sitzen die Genossen und Kampfgefährten vom Stammtisch „Operativer Einsatz“ bei Berliner Bulette und Pils in der „Frohen Aussicht“, einer der wenigen noch existierenden Wohngebietsgaststätten am östlichen Stadtrand von Berlin. Während die Wirtsleute schon dreimal seit 89 wechselten, blieb der Stammtisch erhalten. Oder anders gesagt: der Stammtisch hat die Kneipe erhalten.

„Wat wolln die machen? Uffnahmen? Wat für Uffnahmen denn nur?“, fragt nun Eberhard W. (76), NVA- Oberstleutnant a.D., der wegen seiner Nachwende-Klassenfeind-Naherfahrung als Offizier bei der Bundeswehr fast vom Stammtisch ausgeschlossen worden wär. „Na die wolln mit Kameras durch unsre Straßen fahrn, dit allet filmen, wat se da so sehn, und denn die Filme in Amerika vorführn“, antwortet Günter, nachdem er ordnungsgemäß einen weiteren Strich für ein weiteres Pils auf seinem Bierdeckel gemacht hat. Natürlich mit seinem goldenen Kugelschreiber. Den er damals zusammen mit dem bronzenen MfS-Verdienstorden bekommen hatte und der seitdem für nichts anderes verwendet worden ist, als für Pils-Striche auf dem Bierdeckel. Freitags. Beim Stammtisch.

„So´n Quatsch. Dit is allet janz anders“, meldet sich nun Herbert K. (68) zu Wort. Herbert, von allen nur „Strateje“ genannt, ist der Jüngste in der Runde. Aber trotzdem hoch geschätzt, hatte er doch als Führungs-Offizier „in den guten alten Agentenzeiten“ ganze Heerscharen von IMs hüben und drüben geleitet, geführt und gefördert. Und natürlich gefeuert. Besonders aber sein Tick für versteckte Kameras in Cabinet-Schachteln und sein von ihm erfundenes Bockwurst-Imitat mit eingebauten RFT-Mikrofon (Typ DM 2112) machten ihn schon damals zum geschätzten Experten für Aufnahmen. „Die haben die Uffnahm schon lengst jemacht. Jetze jehts darum, obse die Uffnahmen ins Internetz stellen dürfen oda nich.“

„Wat erzählst Du da? Die ham schon Uffnahmen von uns jemacht? Von unsre Straße? Ohne Jenehmigung?“ Walter Z. (72) schüttelt den Kopf. „Dit hätte ich doch mitkriejen müssen.“ Da hat er wohl recht, denken alle anderen am Tisch. Z. entgeht eigentlich nichts, das liegt ihm im Blut. Schließlich war er damals als Hausmeister in einem der 16-stöckigen Plattenbauten an der Allee der Kosmonauten in Marzahn gleichzeitig Schriftführer des Hausbuches, Vorsitzender der Hausgemeinschaftsleitung und natürlich Volkspolizeihelfer. Sowie SED-Genosse und Informeller Mitarbeiter. Als IM Gagarin hatte er alles aufgeschrieben, was in seiner Platte vor sich gegangen war. Und was nicht. Sein Bericht über das „asoziale Element K. und dessen Absichten nicht nur der Nationalen Volksarmee sondern auch der Deutschen Demokratischen Republik den Rücken zu kehren“ war letztlich der einzige Grund, warum er beim Stammtisch „Operativer Einsatz“ dabei sein durfte und darf. Hausmeister hätte man normalerweise nie zugelassen.

„Bring mal ne Runde Kurze, Karin“, ruft Iljuschin dazwischen. Der heimliche Chef des Stammtisches hatte bisher geschwiegen. So, wie es seine Art ist. Nicht viel erzählen, aber alles hören. Iljuschin saß eines Tages, Mitte der 90er, schon am Stammtisch, als die anderen kamen. Verdutzt sahen sie ihn an, wollten ihn von ihrem operativen Tisch verscheuchen. Bevor sich einer äußern konnte, sagte er jedoch: „Willkommen Genossen. Setzt Euch. Ich bin einer von den Guten.“ Den alten Stasi-Hasen war das nicht geheuer. Ist es immer noch nicht. Denn der Fremde wusste alles über sie: Ihre Namen, ihren Werdegang beim MfS, ihre Adressen und manch andere Geheimnisse, von denen sie hofften und hoffen, er würde und wird sie nie der Öffentlichkeit Preis geben. „Macht Euch keine Gedanken. Bei mir ist alles secret. Nennt mich Iljuschin, die Geschichte erzähle ich Euch später.“ Dazu legte er einen Ausweis auf den Tisch, der den Inhaber als Agenten des russischen Geheimdienstes KGB offenbarte. Der Name war allerdings ausradiert. Später am Abend, nach etlichen Runden Korn (mangels Wodka in der Wohngebietsgaststätte) erfuhren sie noch mehr.

Sie erfuhren, dass seine Missionen, sein Jobs, so geheim gewesen waren, dass nicht einmal die geheimen Geheim-Agenten wussten, was Iljuschin wirklich gemacht hatte. „Nur soviel“, sagte Iljuschin an diesem Abend, „ich habe mehr als einmal den Krieg zwischen Amerika und der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken verhindert. Und einmal, da habe ich als normaler Flugpassagier eine Iljuschin sauber gelandet, nachdem der Pilot einen Herzanfall hatte und der Co-Pilot nicht landen konnte, weil er stock besoffen war. Seitdem nennen mich meine Freunde Iljuschin.“

Karin kommt mit der Runde Kurzen, stellt sie mit samt Tablett auf dem Tisch ab und sagt in die Runde: „Im Jrunde jenomm habt Ihr doch nüschd andres jemacht. Jefilmt, Jespräche uffjenomm, allet notiert. So macht dit och Guchel Stried Fjiu.“ Da wird es ruhig in der Runde vom Stammtisch „Operativer Einsatz“. Bis Günter das Wort ergreift: „Dit is wohl war. Aber nie, niemals, hätten wir dit ins Internet jestellt.

Bilder aus der Fotokiste II

Ja, da Erinnerungen werden wach. Nicht nur bei den Bildern aus der eigenen Fotokiste. Kaum war der erste Teil der bpb-Serie „Bilder aus der Fotokiste“ online, segelte mir ein weiteres altes Foto ins Postfach. Vielen Dank dafür nach Halle. Es zeigt die alte IL 14 der Interflug, die jahrelang auf dem „Rummelplatz“ vor der Eissporthalle stand. An der Schnittstelle von Halle und Halle Neustadt. Dort, wo sich die meiste Zeit unsere Jugend zugetragen hat. Dort, wo die Woche für uns am Sonntag begann.

Sonntags, kurz nach 17 Uhr. Zu dieser Zeit öffnete an jenem Wochentag die HO-Gaststätte (oder war es ne Konsum-Gaststätte?) „Pirouette“. Dort begann vor knapp 30 Jahren unser „Sonntags-Stammtisch“. Freunde aus der Schule, aus dem Jugendklub, aus der Nachbarschaft. Der eine oder andere war schon 18 oder älter, die meisten knapp 16 Jahre jung.Und eigentlich passten wir dort gar nicht so recht hinein. Mit unseren Fleischerhemden, Jeanswesten, Jesuslatschen und Trampern. Doch wir waren eben jeden Sonntag dort. Das war letztendlich unser Eintritt und unsere Garantie für einen reservierten Tisch in der mit weißen Tischdecken eingedeckten Gaststätte. Schräg gegenüber von Halles Stasi-Hauptquartier.

Unvergessen unser Kellner „Herr Ries“. Er war immer für uns da. Manches Mal geleitete er uns, vorbei an wartenden Erwachsenen in Abendgarderobe, zu unserem Tisch. Er bediente uns wie alte Stammgäste. Was wir ja irgendwann dann auch waren. Es gab Pils vom Fass (0,25 l für 56 Pfennige), Schinkenplatte,  gemischte Platte (Salami, Käse, Schinken), Würzfleisch, Steak Letscho mit Pommes, Steak Champignons. Manches Mal auch einen Kiwi, Pfeffi oder Goldi. Je nach Kohle in der Tasche.  Manch einer trank auch nur ein Bierchen, weil es fürs Essen nicht reichte. Aber das war egal. Hauptsache, wir saßen alle zusammen.

Manchmal hatte auch Herr Ries seinen freien Tag am Sonntag. Dann war „der Alte“ da. Unfreundlich, langsam und gar nicht erfreut über uns junge Schnösel. So saß eines Sonntagabends eine Fliege auf dem Rand des Bierglases. Einer von uns wollte sie mit einer schnellen Handbewegung fangen. Das ging schief, das Bierglas fiel um, der Inhalt ergoss sich über die Tischdecke. „Lassen Sie gefääligst unsere Haustiere in Ruhe“, schrie daraufhin der „Alte“ und ließ uns absichtlich mit der nassen Biertischdecke sitzen.

Aber auch solche Ereignisse hielten uns nicht von unseren Sonntagstreffen ab. Später waren dann die einen zur Asche, andere beim Studium oder auf Montage im Lubminer Atomkraftwerk. Wo aber auch immer die Woche verbracht wurde, der Sonntagabend gehörte uns und der „Pirouette“. Einige  fuhren dann gleich von dort aus mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof und von dort weiter nach Weimar oder an die See zum Studiern oder Klechen off Mongdasche.

Die „Pirouette“ gibt es nicht mehr. Auch die IL 14 steht inzwischen in Dessau. Den Stammtisch aber gibt´s immer noch, in einer anderen Kneipe in Halle. Ein, zwei, drei Stammtischgründer haben sich inzwischen über 1500 Mal am Sonntag  versammelt. Und heben ab und an einen oder zwei auf Herrn Ries.