Verdamp lang her

Eigentlich kaum zu glauben. Aber es ist wirklich 30 Jahre her. DREIßIG Jahre. Damals, als halb Halle-Neustadt und sicher auch halb Halle und überhaupt die DDR in aufrührerischer Vorfreude war. Auf DAS Konzert. SIE kommen wirklich. BAP. Keine Frage, da mussten wir alle hin. Und es gab auch Karten. Hatte der Jugendclub besorgt. Wenn ich mich recht erinnere. Vorher wurden T-Shirts bemalt, Texte gelernt und in nächtlichen Dauer-Aktionen versucht, zu übersetzen. Von Kölsch ins Deutsche. Das war nicht einfach. So ganz ohne Verbindungen „noh Kölle“. Aber irgendwie ging es. Einer war besonders gut darin, unser Freund Sven hörte sich die Songs immer und immer wieder an. Bis irgendwann auch der letzte Text übersetzt war. Aktuell war damals, glaube ich, Zwesche Salzjebäck un Bier. Vorher hatten wir natürlich schon all die anderen Platten gehört. Wolfgang Niedecken`s BAP rockt andre kölsche Leeder. Affjetaut. Für usszeschnigge. Von drinne noh drusse.

Irgendeiner hatte die Platten. Ich glaube, Sven hatte sie. Alle. Und damit hatten wir sie alle auf Kassette. Oder Tonband. Egal. BAP war BAP. Ob auf Platte (was natürlich schon die beste variante war) oder auf Kassette. T-Shirts wurden gemalt. Auch von Sven. Der konnte mit Textilfarben und Talent „echte“ BAP-T-Shirts malen. Ich hatte mir damals aus einer alten, zerissenen schwarzen lederhose die Buchstaben so ausgeschnitten, wie man BAP schrieb. Und immer noch schreibt. Und dann auf eine ebenfalls selbst (von Mutti) geschneiderte Jeansweste genäht. Das war was. BAP-Schriftzug auf ner Jeansweste. Wenn ich auch heute glaube, dass die Weste von vielen belächelt worden ist. Damals. Aber egal. Ich hatte eine BAP-Weste. Und dann kamen sie nicht. Deshalv spill mer he. Und alles war vorbei. Am Abend des Konzertes haben wir dann vor dem Konzertsaal gesessen und Kerzen angezündet. Bis die Vopos kamen.

Sechs Jahre später dann war ich auf einmal Journalist. Von heute auf morgen. Vom Schlosser zum Schreiber. Freischaffend vorerst. Und hatte auf einmal Kollegen, die fast alle aus Köln kamen. Mein Chef damals Rudi. Der war erstaunt, dass ich BAP so gut kannte. Und lud mich ein. Nach Köln. Und organisierte dort ein Treffen mit BAP. Im Chlodwig-Eck. In der Südstadt (kannte ich ja schon, aus der Ferne: Südstadt verzäll nix) Wirklich? Ich treffe BAP? Kann nicht sein. Doch, du machst das schon. Mach ein Interview. Dann sehen wir weiter. Ich war im Chlodwig-Eck. November 1990. BAP war nicht da. Nicht vollständig. Aber Wolfgang Niedecken war da. Und Major Heuser. Ein Interview ist es nie geworden. Zu aufgeregt war ich als Neu-Journalist. Als Ossi im Westen. Aber der Abend – unvergessen. Kölsch bis zum Abwinken. Und erzählt (verzällt) haben wir bis zum Abwinken. Besonders über das Konzert. Das nie stattgefunden hatte. Wir holen das nach. Hatte Wolfgang damals versprochen. So war es dann auch. Zwei Monate später. Am 14. Januar 1991 in der Erfurter Thüringenhalle. Und auch das ist schon wieder 23 Jahre (verdamp lang) her.

Aktuelles von BAP gibt´s hier.

Et bliev länger hell jetz

Es gibt ja verschiedene Gründe, warum einem immer mal wieder der eine oder andere Song einfällt. Aus längst vergangenen Jugendtagen. Mal ist es eine Party, auf der die Mucke von damals gespielt wird, mal läuft jenes Lied im Radio. Seltener aber ist es, zumindest bei mir, dass sich ein Lied regelmäßig in das Hirn schleicht. Um dort für wenigstens ein paar Stunden zu verweilen. Manches Jahr sind es sogar ein paar Tage, die mich jener Song nicht loslassen will. So geht es mir seit heute, seit gerade eben wieder. Ein Blick nach draußen (es ist noch hell) und ein Blick auf die Uhr (gleich um fünf) haben das Lied wieder hervorgekramt. „Alexandra, nit nor do“ von BAP. Warum? BAP-Fans werden´s wissen: Wegen der ersten Zeile: Et bliev länger hell jetz, obwohl: et es immer noch Februar.

Das ist das Mindeste

Es war laut. Sehr laut heute früh in der S-Bahn. Ausgerechnet heute. Nach dem langen Abend im Café Garbaty gestern. Mit dem guten tschechischen Bier. Da simmer dabei, dat is prima. Haben sie gesungen. Nein, gebrüllt haben sie es. Heute früh in der S-Bahn. Mein Hirn war aber noch nicht online. Ich konnte die Zeilen nicht zuordnen. Wohl auch, weil die Brüller hinter mir saßen. Was wollen die bloß? Auch beim Refrain sollte sich keine logische Verbindung zwischen Lied, Text und Ereignisort beziehungsweise Datum/Tag einstellen. Viva Colonia. Brüllten nun noch ein paar mehr mit im Chor. Viva Colonia. Irgendwann, irgendwo hatte ich das schon einmal gehört. Da mein Hirn jedoch immer noch in der Ladestufe verharrte, nahm ich mein Smartphone zu Hilfe. Dazu ist es ja schließlich da. Um all die trunkenen Hirne am frühen Morgen zu ersetzen.  Oder zumindest, ihnen Unterstützung zu bieten.

Viva Colonia. Ein Lied von den Höhnern aus Köln. Neukölln? Nee, Köln. Colonia eben. Ach, richtig. So ein Karnevalsong, der dort jedes Jahr und immer wieder geträllert wird. Und, so steht es im Internet geschrieben, sagt mein Smartphone, sogar auf dem Münchener Oktoberfest sei das Lied der Hit. Nun gut. Aber warum brüllen diese Deppen oder Jecken oder wer auch immer sie sind, das Lied morgens in der S-Bahn? Zwischen Alex und Zoo? Während mein Hirn in der Vorstufe zum logischen Denken nach Zusammenhängen suchte, gab es Befehl an die Beine. Ich setzte mich um. Weiter weg von den Brüllern und dafür aber mit dem Gesicht zum Volke. Und nun offenbarte sich mir, wer sich da dem Brüllen eines in Bayern erfolgreichen kölschen  Liedes in Berlin widmete. Dre junge Frauen und ein Typ. Schätzungsweise Anfang 20. Oder jünger. Oder älter. Wie auch immer. Mein Hirn signalisierte: Weg hier. Raus. Aussteigen. Dann wieder: Sitzenbleiben. Wir sind noch nicht am Ziel. Was also machen? Das Gebrüll und den Anblick ertragen? Oder Aussteigen und zu spät zur Arbeit kommen?

Ich blieb sitzen. Ertrug den Anblick. Den Anblick der Brüllgruppe. Die eine Brülldame hatte einen rasierten Schädel. Zur Hälfte. Die andere Hälfte voller bunter Haare. Ungewaschener Haare. Die zweite mit John-Lennon-Brille. Und Igelhaarschnitt. Ein weiteres Brüllmädchen saß im Abteil gegenüber. Allein. Weil neben ihr niemand mehr Platz gefunden hätte. 150 Kilo. Schätzungsweise. In kurzen Hosen. Zu engen und zu kurzen kurzen Hosen. Mein Hirn signalisierte: Weg. Bloß weg hier. Raus. Doch noch fünf Stationen bis zum  Zoo. Der Dicken gegenüber der Typ. Der Brüllaffe. Das komplette Gegenteil. 50 Kilo. Höchstens. Ein Kreuz wie  Zaunlatte. Aber Schnauzbart. Und Rucksack. Und große Fresse. Viva Colonia. Wir leiben das Leben, die Liebe und die Lust. Brüllt er. Wir glauben an den Lieben Gott und ham auch immer Durst. Geht es weiter. Ja. Genau so sieht er aus. Liebe und Lust. Eher wie Krise und Frust.

Aber warum nur sangen die das Lied? Mein Hirn war inzwischen zu 50 Prozent gefechtsbereit und versuchte nun Lied, Ort, Datum und vor allem Brüllgruppe unter ein Dach zu bringen. Der Karneval war es nicht. Oktoberfest? Auch nicht. Der 1. Mai? Der 1. Mai. Der musste es sein. Aber warum Viva Colonia? Ich hab es nicht herausgefunden. Nur zwei Dinge wurden auf der Fahrt bis Zoo noch klar. Nämlich was die Gruppe außer dem Brüllen noch verband. Erstens: Alle waren noch nie einer geregelten Arbeit nachgegangen. Und zweitens: Sie waren unterwegs zur 1. Mai-Demo des DGB.  Motto: Das ist das Mindeste. Zu Gast: Die Band Ruhestörung. Viva Colonia.